Donnerstag, 7. Februar 2013

Danke, Sanne!

Es ist Freitag, der 7. Februar 2003.
Es ist mein einziger freier Vormittag seit längerer Zeit.
Ich freue mich auf den Tag, ich mache Pläne.
Übermorgen wird meine Tochter 14 Jahre alt, ich habe noch Besorgungen zu erledigen, muss auch in den Kopienladen.
Eigentlich trage ich nie eine Uhr bei mir und bin auch nie so planvoll, aber heute will ich unbedingt alles in die wenigen Stunden packen, die ich gerade zur Verfügung habe. Ich schaue an diesem Morgen genau auf die Uhr. Um kurz vor zwölf wird mein Sohn aus der Schule kommen, bis dahin muss ich unbedingt zurück sein. Ich beschließe, dass ich um halb zehn los gehen werde. Ein straffes Zeitprogramm liegt an diesem Morgen vor mir. Ich überlege mir genau, welchen Weg ich nehme und wann ich wo sein möchte.
Ich beeile mich, um diesen Plan einzuhalten, ich schaue immer wieder auf die Uhr und stelle fest: ich liege gut im Rennen.
DA KLINGELT ES!
Ich ignoriere es.
Ich mag nicht gestört werden.
Ich muss doch meinen Plan heute einhalten!
ES KLINGELT NOCH EINMAL.
Ich ringe mit mir.

Und dann schleiche ich in den Flur. Von dort aus kann man ungefähr erkennen, wer vor der Tür steht, wird aber selber nicht gesehen. Ich sehe einen bunten Pullover. Einen bekannten bunten Pullover. Susanne? Ist es Susanne? Meine Freundin seit vielen Jahren. In letzter Zeit sehen wir uns selten, sie hat vor einem Monat ihr sechstes Kind bekommen. Ich habe drei Kinder und einige Tageskinder. Spontane Treffen sind da kaum mehr möglich. Wenn wir uns treffen, dann verabreden wir uns. Telefonieren vorher. Und nun steht sie unverhofft vor der Tür?
Ich kann es kaum glauben, weiß aber nicht, ob ich mich freuen soll...
Ich sehe meinen schönen ausgefeilten Plan für den heutigen Vormittag schwinden.
ES KLINGELT EIN DRITTES MAL.
Ich sehe und höre es. Und ich sehe Elijah auf Susannes Arm. Das alles sehe ich durch die Milchglasscheibe der Tür. Ich drücke auf den Türöffner – und Susanne kommt herein.
Sie lacht, sie trägt ihren bunten Pullover und sie hält Elijah auf dem Arm.
Mein Plan ist mir egal!
SUSANNE IST DA!
Die nächste Stunde gehört uns. Wir plaudern. Susanne stillt Elijah. Später schaukele ich Elijah auf meinem Arm. Er seufzt und schläft ein.
Es ist kurz vor zehn, als wir die Martinshörner hören. Es sind viele – immer wieder hören wir sie.
Dann – Stille.
Irgendwo knattert ein Hubschrauber.
Elijah wacht auf. Er braucht eine Windel. Susanne hat keine dabei und ich habe solch kleine Windeln auch nicht hier. Sie wird nach Hause fahren.
Wir verabschieden uns, ich gehe mit an die Tür und winke ihr noch hinterher.
Immer noch knattert ein Hubschrauber, sonst ist nichts zu sehen.
Wieder in der Wohnung schaue ich auf die Uhr. Wenn ich mich jetzt beeile, kann ich es noch schaffen. Noch ist Zeit.
Ich schlüpfe in Schuhe und Jacke, schnappe mir den Rucksack, eile aus der Tür.
Als ich um die Ecke biege, stockt mir der Atem. Feuerwehren und Notarztwagen überall – die Straße ist für den Verkehr gesperrt – unheimliche Stille.
Über mir knattert der Hubschrauber.
Sonst ist nichts zu hören.
Ich will zurück nach Hause, aber meine Beine laufen weiter. Immer weiter. Bis zu meiner Kreuzung, über die ich immer gehe. Die Kreuzung mit der Verkehrsinsel. Aber die Verkehrsinsel ist nicht mehr da. Hier sind nur noch Trümmer. Hier ist ein schwerer Unfall passiert. Leute laufen unter Schock stehend hin und her. Ein Auto liegt auf dem Dach. Trümmer bedecken die Straße.

Wie in Zeitlupe bewegt sich das Leben um mich herum.
Auf der Fahrbahn wird ein Mensch zugedeckt.
Hier wäre auch ich gewesen, wenn Susanne nicht gekommen wäre.
Hier wäre ich gewesen.
Ich muss fort hier – ich laufe nach Hause.
Mit zitternden Knien und dankbarem Herzen rufe ich Susanne an. Sie ist gerade wieder zu Hause angekommen und hört mir zu.
 

Und dann sagt sie das Ungeheuerliche: „Ich wollte heute gar nicht zu dir. Ich war auf dem Weg zu IKEA. Aber mein Auto fuhr einfach zu dir. Und plötzlich stand ich vor deiner Tür. Ich wunderte mich selber darüber.“

„Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben; denn ohne es zu wissen haben manche auf diese Weise Engel bei sich aufgenommen.“

Hebräer 13,2

Susanne war mein Engel – von Gott geschickt.
Beinahe hätte ich meinem Engel nicht die Tür geöffnet...
Wie gut, dass mein Engel dreimal klingelte.


8 Kommentare:

  1. oh, solange ist das her? Elijah ist schon 10!
    L.s Schutzengelorden habe ich gut aufbewahrt.
    Schreib noch mal so was Schönes von Taize......wir wär´s, fahren wir noch mal?
    eine herzliche Umarmung,schön dass es dich gibt
    deine Sanne

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  2. Da läuft es mir jetzt gerade kalt und warm den Rücken runter. Wie das Leben manchmal so spielt !

    Alles Lieb Euch
    Andrea

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  3. Ja, Sanne, nach Taize müssen wir auf jeden Fall nochmal!

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  4. ja, ich freu mich mit, erinnere mich gut an dein Erzählen an anderer Stelle darüber... ich bekomme immer noch ne Gänsehaut .....

    tineken

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  5. He! Die Geschichte KENNE ich doch!!! Hab ich a) schon mal erzählt bekommen - in Hagen im Freilichtmuseum - und b) schon mal gelesen!!! Und finde sie immer wieder schön.
    Is ja'n Ding, was einem beim blog-Bummeln alles so vor die Füße fällt. ;-)
    Liebe Grüße vom
    LandEi

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  6. Wie schön, liebes Landei, dich hier zu treffen!
    Ich möchte öfter mal wieder was von dir lesen! :)

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  7. Oh, was für eine Geschichte! Mehr fällt mir vor (Mit-)schreck nicht ein....

    Finema

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  8. Eine schaurig-schöne Geschichte!
    Irgendjemand passt halt immer auf uns auf!
    Alles Liebe Babsy

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